Kommentar – COVID-19: Ist die Datenbegrenzung für Videostreaming wirklich nötig? – Netflix übertreibt es
Da die Newslage abgesehen von den bereits ausführlich beschriebenen Apple-Neuheiten (
iPad Pro,
Mac mini,
MacBook Air) im Hardwarebereich derzeit erschreckend dünn ist, hier mal ein etwas anderes Thema abseits des TechTicker: Kann mir bitte mal jemand plausibel erklären, ob die kürzlich von der EU bei Streaminganbietern angefragte Reduzierung der Bandbreite tatsächlich notwendig ist? Ich bezweifle das nämlich stark. – Zumindest in der jetzigen Form.
Hintergrund: Die zuständige EU-Kommissarin ist letzte Woche mit einer Bitte an die großen Streaming-Plattformen herangetreten. Diese sollen darüber nachdenken, ihre Bandbreite zu reduzieren, um die Netze etwas zu schonen. Da Millionen Menschen derzeit in den eigenen vier Wänden ausharren müssen, stieg die Nutzung von Netflix, YouTube und Co. deutlich an. Es solle aber auf keinen Fall riskiert werden, dass es zu einer Überlastung kommt – und dann möglicherweise auch noch das Internet ausfällt. (Siehe
hier)
Einige Medien berichteten, dass Amazon, Netflix, Google, YouTube & Co. sehr zügig auf die Forderung der EU reagiert hätten, um etwaigen Zwangsvorgaben zuvor zu kommen. Den Grund für die schnelle Reaktion halte ich für eine falsche Annahme. Vielmehr dürften die Anbieter diese Forderung mit Kusshand entgegen genommen haben. Denn es ist für Sie eine Möglichkeit, Millionen an Durchleitungskosten zu sparen, trotz tatsächlich erhöhter Nutzung. Der eigentliche Zweck, nämlich eine Überlastung der Netze – oder genauer: der Netzwerkknoten – zu verhindern, ist derzeit meines Wissens nirgendwo als konkrete Gefahr nachweisbar. T-Online
berichtet:
"Auf Anfrage von t-online.de schreibt Unternehmenssprecher Husam Azrak von der Deutschen Telekom, dass das Unternehmen derzeit keinen "nennenswerten Anstieg des Datenverkehrs" verzeichne. "Wir haben unsere Notfall- und Pandemiepläne schon im Januar aktiviert und sind bestmöglich vorbereitet", schreibt Azrak."Darüber hinaus ist die Umsetzung sehr fraglich. Eine größere Belastung der Netze ist zwar messbar, aber hauptsächlich tagsüber und nur teilweise wegen zunehmender Heimarbeit und damit einher gehende Online-Verbindungen, sondern auch durch Online-Spiele bzw. große Downloads. (Siehe dazu auch
diese Meldung des Tagesspiegel vom 17.03.) Manche daheim gebliebenen haben offenbar auch nichts anderes zu tun, als gleich morgens nach dem Aufstehen Netflix zu streamen. Und was ist Abends? Wenn alle Leute sowieso Feierabend haben und fernsehen oder streamen, egal ob Corona oder nicht?
Netflix wollte die Datenrate ursprünglich um etwa 25% senken. Tatsächlich wurde sie halbiert. – Mindestens! Sendungen in 4K/HDR kommen laut Bandbreitenanzeige auf meinem TV derzeit mit etwa 7,62 Mbit/s statt normal um 15,24 Mbit/s an. Bei 4K reicht das noch für ein brauchbares Bild. Aber HD-Inhalte werden statt mit ca. 3-6 Mbit/s derzeit oft nur mit knapp über 1 Mbit/s gestreamt, teilweise sogar noch mit deutlich weniger. Ein katastrophales Beispiel war der am vergangenen Donnerstag Abend von mir angesehene Film „Der Schacht“, welcher mit gerade mal 0,57 Mbit/s durch die Leitung tröpfelte und aussah, wie Klötzchengrafik auf einem C64. Es kam zu massiver Artefaktbildung. Die Auflösung wurde zwar noch als ”1080” angezeigt, sah aber erheblich schlechter aus, als die gewöhnliche 720P-Auflösung der Öffentlich Rechtlichen über Satellit und sogar noch schlechter, als Ausstrahlungen der Privaten in SD-Qualität. Auf Amazon Prime (wo es meines Wissens keine Bandbreitenanzeige gibt) fiel das ebenfalls sehr stark in dem kürzlich hinzugefügten Film "Arrival" auf.
Währenddessen gibt es wenig Information darüber, ob die Netze zu irgend einem Zeitpunkt überhaupt mal an die Belastungsgrenze gekommen sind und ob ein Ausfall gedroht hat oder noch droht.
Natürlich bin ich nicht grundsätzlich gegen Maßnahmen zum Schutz der Netze, um unsere Arbeit zumindest online so gut wie möglich aufrecht erhalten zu können. Und ich habe auch kein Problem damit, mal ein paar Wochen mit schlechterer Bildqualität zu leben. Allerdings ist das ärgerlich, wenn lediglich aus purem Aktionismus übereifriger EU-Abgeordneter und ohne konkrete Gefahr zahlende Verbraucher benachteiligt werden.
Also, könnte das bitte mit etwas mehr Augenmaß und in Abhängigkeit der tatsächlichen Last geschehen? Beispielsweise Bandbreitenbegrenzung für TV-Streaming nur tagsüber, abends ab ca. 20 Uhr jedoch nicht? Und auch bitte nur, wenn tatsächlich die Kapazitäten zu erschöpfen drohen.
Anmerkung Forenadministration:
Streamingangebote können zum Gelingen des im Moment so dringend gebotenen "social distancing" durchaus einen hilfreichen Beitrag leisten. Nur in diesem Kontext ist der News-Kommentar gemeint und soll keinesfalls die dramatische aktuelle Lage gegen tumbe Konsumbedürfnisse ausspielen.
Wie es so leicht passiert, wenn Meldungen das Politische streifen, nehmen einige User diesen News-Kommentar leider zum Anlass, sehr vehement abseitige Meinungen zu verbreiten. Das widerspricht nicht nur unserem Gentlemen-Agreement in Sachen politische Diskussionen, sondern ist hier wirklich verantwortungslos. Einige in der Diskussion zitierten vermeintliche Expertenmeinungen, die die aktuelle Lage nur als gewöhnliche Grippe herabspielen, sind von den Leitmedien keinesfalls ignoriert oder gar zensiert, sondern im Gegenteil ausführlich diskutiert worden. MTN distanziert sich ausdrücklich von der Ignoranz und Überheblichkeit solcher, die vor den schrecklichen Ereignissen in den Krankenhäusern Italiens, Spaniens (oder wem das noch zu weit weg ist: des Elsass) die Augen verschließen und glauben, derlei könne hier nicht passieren.
Vermeer 30.03.2020 00:07