Test Audeze iSine 10 und iSine 20 magnetostatische In-Ear Kopfhörer: Paradigmenwechsel im Gehörgang
Ich liebe gute Kopfhörer. Nicht als Ersatz für Lautsprecher, aber als gute Alternative für bestimmte Situationen. Zwar konnte bisher keine noch so aufwändige Kopfhörertechnik das besondere Bühnenerlebnis großartiger Lautsprecher reproduzieren, aber die kopfnahe Beschallung bietet dafür andere Qualitäten. Zum Beispiel können Kopfhörer für relativ wenig Geld ein äußerst hochauflösendes und "reines" Klangerlebnis erzeugen, wie es nur wenige sehr teure Boxen in sorgfältig kontrollierter Umgebung zu leisten vermögen.
KompaktMarke | | Audeze (Vertrieb: audionext.de) |
Bezeichnung | | iSine 10 / 20 |
Empf. Preis (€) | | 479 / 699 |
Das liegt vor allem daran, dass Kopfhörer einen ganz gravierenden Störfaktor in der Musikreproduktion ausschalten: den Einfluss der Raumakustik. Luft ist ein sehr verlustbehaftetes Übertragungsmedium. Je weiter Schall durch Luft transportiert werden muss, desto stärker verändert sich der Klang. Außerdem verändert jeder Raum mit seinen individuellen akustischen Eigenschaften durch Reflexionen, Resonanzen, Raummoden und andere Einflüsse den Klang des vom Schallwandler abgestrahlten Tons. Was am Ohr des Hörers ankommt, weicht daher meist stark von dem ab, was ursprünglich aufgezeichnet wurde. Bei Kopfhörern entfallen sowohl die raumakustischen Einflüsse, als auch Übertragungsverluste durch lange Luftwege. Außerdem lassen sich Kopfhörer aufgrund ihrer geringen Größe relativ einfach (sprich kostengünstig) so konstruieren, dass ihre Gehäuse den Klang nicht großartig durch Eigenresonanzen beeinflussen, was bei großen Boxen enormen mechanischen Aufwand erfordert. Auch die Einflüsse der die Treiber umgebenden Schallwand entfallen bei Kopfhörern zu einem großen Teil.
Doch Kopfhörer haben leider ihre ganz eigenen Schwachpunkte, die einem möglichst natürlichen Hörerlebnis im Wege stehen. Der vielleicht größte Schwachpunkt bei der Schallübertragung direkt oder sehr nahe am Ohr bzw. Trommelfell ist ironischerweise ausgerechnet der fehlende Einfluss der Raumakustik!
Das menschliche Ohr ist von der Evolution u.a. dafür optimiert worden, um den Menschen vor Gefahren zu warnen. Einer der Mechanismen dafür ist die räumliche Wahrnehmung. Ein knackender Ast, ein Rascheln oder ein Grunzen muss so schnell und so genau wie möglich lokalisiert und in seiner Entfernung eingeschätzt werden können, um bei der Jagd erfolgreich zu sein oder um nicht selbst anderen Predatoren zum Opfer zu fallen. Das Ohr bzw. das Gehirn des Menschen ist darin extrem gut, denn es kann Laufzeitunterschiede zwischen den Ohren im Mikrosekundenbereich auswerten und daraus in "Echtzeit" eine Ortung vornehmen. Genau dieser Aspekt des Hörens entfällt bei Kopfhörern. Zwar gibt es diverse technische Ansätze, um diese Mankos zu beseitigen – zum Beispiel durch eine sogenannte Crossfeed-Schaltung, die gewisse Anteile des linken/rechten Kanals auf das jeweils andere Ohr mischt. Aber mit keinem dieser Workarounds ist es bisher gelungen, das berüchtigte "Im-Kopf-Gefühl" bei Wiedergabe über Kopfhörer komplett auszuschalten. Ohr und Gehirn sind dafür einfach zu gut, um sich mit so billigen Tricks überlisten zu lassen.
Ein anderes Manko, das insbesondere In-Ear-Hörer betrifft, ist die Dämpfung des Außenschalls. In-Ears wirken meistens wie Gehörschutzstopfen. Was zur Reduzierung von Lärm und dem Schutz des Gehörs vor Überlastung durchaus nützlich ist, schadet dem natürlichen Höreindruck eines nicht blockierten Gehörs. Das ist auch einer der wesentlichen Gründe, warum ich persönlich In-Ears nicht so gerne mag, wie offene, ohrumschließende Bügelkopfhörer – abgesehen von dem unangenehmen Gefühl, einen Fremdkörper im Gehörgang stecken zu haben. Durch das (weitgehende) Ausschalten des Außenschalls wirkt die gesamte Situation unnatürlich, fast, als wäre man unter Wasser. Das schirmt zwar den Hörer auf Reisen vor Störgeräuschen und Dauerlärmbelastung ab und bewahrt die Musikübertragung vor akustischer Überlagerung, wirkt aber auf Dauer unnatürlich und belastend.
Ohrumschließende oder -aufliegende Bügelkopfhörer können dieses Manko durch eine offene Bauweise des Gehäuses weitgehend umgehen, welches den Außenschall fast ungehindert zum Ohr durchlässt. Das wirkt deutlich natürlicher, setzt zum Musikgenuss aber eine Umgebung voraus, die möglichst frei von Störgeräuschen ist und nur natürliches Akustik-Ambiente bietet.
Wenn das primäre Ziel ist, den Außenschall bzw. Lärm zu dämpfen, um mehr Ruhe zu haben, sind geschlossene Kopfhörer, wie es fast alle In-Ears sind, natürlich von Vorteil. Ist das Hauptziel aber ein möglichst natürlicher Klang, dann gehört ein gewisses Außenschall-Ambiente unbedingt dazu, um das Gehirn nicht mit einem Gefühl von Isolation zu irritieren.
In-Ears sind konstruktionsbedingt fast ausschließlich akustisch geschlossen und damit stark isolierend. Durch die Isolation entsteht im Ohr ein Druckkammereffekt. Ähnlich wie in einem geschlossenen Auto hilft dieser Effekt bei der Wiedergabe tiefer Töne. Kräftige Bässe lassen sich damit leichter erzeugen, als in einem nicht abgeschlossenen System. Es reichen daher sehr kleine Treiber/Membranen für tiefe und satte Töne.
So, das war jetzt eine sehr lange Einleitung, die trotzdem nur einige Teilaspekte der Gesamtthematik behandelt. Aber Sie ahnen vielleicht schon, worauf das hinaus läuft: Bei meinen aktuellen Testkandidaten handelt es sich um In-Ear-Kopfhörer, und zwar um
In-Ears in akustisch offener Bauweise! Das ändert so einiges…